NEHMATULLAH

„Die Russen hatten das Land verlassen. Wir aber lebten nicht in Frieden, sondern in Schutt und Asche.“

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N. M.
30 JAHRE ALT,
VERHEIRATET, VATER VON VIER KINDERN
(ZWEI SÖHNE, ZWEI TÖCHTER), KFZ-MECHANIKER

Mein Vater, der lange vor meiner Geburt für die Regierung arbeitete und sich politisch für seine Überzeugungen einsetzte, ahnte damals noch nicht, dass er schon bald mit Waffen für sie kämpfen müsste. Not, Hunger, Armut und Angst waren unserer Alltag, seit die Russen ins Land kamen. Schließlich kam tiefe Trauer hinzu. Trauer um Familienmitglieder. In der Theorie führen Kriege zu Siegen oder Niederlagen, in der Praxis immer zu Verlust.

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Als erstes Kind meiner Eltern bin ich 1985 im Norden Afghanistans zur Welt gekommen, in einer Stadt, die damals Tasch Kurgan hieß. Ich blieb nicht das einzige Kind, hatte bald zwei Brüder und vier Schwestern. Heute, 30 Jahre später, bin ich fern der Stadt, aus der ich komme. Heute, 30 Jahre später, habe ich meine Frau, meine vier Kinder, aber nur noch einen Bruder und nur noch zwei Schwestern. Meine Eltern und meine Geschwister leben noch immer in Afghanistan. Sie blieben in einem Land, das seit Jahrzehnten in Kriegen und Krisen versinkt.

Bevor die Russen nach Afghanistan kamen, arbeitete mein Vater für die Regierung, setzte sich politisch für seine Überzeugungen ein und ahnte noch nicht, dass er bald schon für sie kämpfen müsste. Mit den Russen trat die Not in unser Leben, mit dem Krieg die Trauer. Ende der Achtziger geriet das Haus meiner Familie unter Beschuss. Dieser erste Angriff, der uns direkt traf, kostete einen meiner Brüder und eine meiner Schwestern das Leben. In der Theorie führen Kriege zu Siegen oder Niederlagen, in der Praxis immer zu Verlust.

Bald kehrte auch noch mein Vater aus einem seiner Kämpfe schwer verwundet zurück. Drei Monate lang behandelten sie ihn im Krankenhaus, bis ihn ein Rettungswagen wieder zu uns nach Hause brachte. Gesund war er zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht. Die Verletzungen meines Vaters, die schwerwiegenden Verluste meiner Familie und die wachsende Gewissheit, dass unser Leben in Tasch Kurgan immer in Gefahr war, führten dazu, dass wir das erste Mal aufbrachen, unserer Heimatstadt den Rücken kehrten. Etwa 80 Kilometer entfernt, in der Provinz Samangan, lebte einer meiner Onkel. Wir packten unsere Taschen und zogen zu ihm.

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Arbeit statt Schule.

Ich war sieben Jahre alt. Alt genug also, um in die Schule zu gehen. Die Russen hatten das Land verlassen. Wir aber lebten nicht in Frieden, sondern in Schutt und Asche. Ich wollte lernen, wie jedes normale Kind zur Schule gehen, doch unsere prekäre Situation ließ das nicht zu. Ich musste arbeiten, um meine Familie zu unterstützen, fuhr auf die Märkte der Region und verkaufte dort Tücher und Kleidungsstücke, die meine Mutter zu Hause nähte. Ich habe noch nie in einem Klassenzimmer gesessen.

Seit einiger Zeit versuchten die Taliban damals, Teile des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Wieder kam es zu erbitterten Kämpfen und Ziel dieser Angriffe waren wir, ganz normale Menschen, die in Ruhe leben wollten. Die Taliban versetzten die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken. Eines dieser Gefechte um die Vorherrschaft in unserer Region wurde zur nächsten Tragödie meiner Familie. Während ich auf dem Markt stand und versuchte, Geld zu verdienen, geriet unser Wohngebiet unter Beschuss. Meine älteste Schwester war zu diesem Zeitpunkt zu Hause. Für sie kam jede Hilfe zu spät.

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Die eigene Werkstatt.

Tagein, tagaus arbeiteten wir hart, um zu überleben, und blieben doch bettelarm. Ich zog weiter über die Märkte, nutzte meine wenige Zeit aber, um etwas zu lernen. Jede freie Minute verbrachte ich in der Autowerkstatt eines Bekannten und merkte schnell, dass mir diese Arbeit großen Spaß machte, ich ein Händchen dafür hatte. Ich fing an, von einer eigenen Werkstatt zu träumen. Es war ein gutes Gefühl, Autos wieder auf die Straße zu bringen, zu wissen, an welchen Schrauben man drehen musste, um Kaputtes wieder funktionstüchtig zu machen. Drei Jahre lang brachte ich mir das Handwerk selbst bei, war plötzlich ein gefragter Mechaniker und wagte den Schritt: Ich eröffnete meine eigene Werkstatt ein. Bald schon verdiente ich gutes Geld mit meinen Reparaturaufträgen, viel mehr als mit den Tüchern meiner Mutter auf den Märkten der Stadt.

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Der 11. September 2001 brachte die Amerikaner auf den Plan. Auf ihrem „Kreuzzug gegen den Terrorismus“ war von Demokratisierung die Rede, doch hörte das Brodeln unter der Oberfläche in meinem Heimatland nie auf. Bis heute nicht. Ein Kampf ohne Sieger, im ewigen Hin und Her der Kräfte bleiben unter dem Strich nur Verlierer.

Mit 19 Jahren begegnete ich meiner großen Liebe. Wir heirateten schnell. Wir waren nicht reich, aber unsere existenziellen Sorgen doch kleiner als früher. Ich reparierte Autos in meiner Werkstatt, war gut beschäftigt. Meine Frau hatte, im Gegensatz zu mir, sogar eine Schule besucht und abgeschlossen. Mein Bruder und meine Schwestern zogen nach und nach aus, gründeten ihre eigenen Familien. Wir blieben bei meinen Eltern. Zwar hungerten wir nicht mehr, waren glücklich miteinander, doch fanden auch wir keinen wirklichen Frieden im Chaos der folgenden Jahre. Die Taliban erstarkten von Zeit zu Zeit, wurden militärisch zurückgedrängt, formierten sich schon bald neu und kehrten noch stärker zurück. Immer wieder versuchten sie, Tasch Kurgan einzunehmen – meine Heimatstadt, die nicht weit von uns entfernt war. In diesen Kämpfen verlor ich auch meinen Onkel, der beim Militär war.

Erste Fluchtgedanken.

Mittlerweile war ich selbst Vater geworden. Ich wollte nicht kämpfen, sondern leben. Ich wollte, dass meine Familie in Sicherheit ist. So kam mir in dieser Zeit zum ersten Mal der Gedanke an eine Flucht aus meinem Heimatland. Doch ich war absolut ahnungslos. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich eine Flucht organisieren sollte, wie ich es schaffen könnte, meine Familie heil außer Landes zu bringen. In vielen Gesprächen mit guten Freunden, denen ich vertrauen konnte, suchte ich Rat.

So kam ich mit einem Mann in Kontakt, der mir anbot, meine Familie in die Türkei zu bringen. Für 1.400 Dollar pro Person. Ich staunte, wie schnell plötzlich alles ging. Der Mann fuhr uns – meine Frau, meine zwei Söhne, zwei Töchter und mich – zunächst über die Grenze in den Iran. Auf dem Weg in die Türkei, eine anderthalbtägige Reise, gerieten wir in einen Hinterhalt von Kriminellen, die uns ausraubten. Was sie von uns erbeuteten, war ihnen jedoch nicht genug. Sie hielten uns fest und erpressten uns um weitere 11.000 Dollar. Wir waren Geiseln einer absurd hohen Lösegeldforderung, schließlich hatten sie uns bereits alles genommen. Meine Frau wurde plötzlich sehr krank. Die Räuber brauchten neun Tage, bis sie endlich verstanden hatten, dass bei uns nichts mehr zu holen war und sie uns gehen ließen. Wir setzten unsere Reise fort, meiner Frau ging es zusehends schlechter. In der Türkei angekommen, bescheinigte man uns immerhin, dass wir nicht zurück nach Afghanistan müssten. Allerdings verbot man uns auch die Weiterreise. Wir wollten nach Deutschland und so stiegen wir viermal auf ein Boot, um nach Griechenland zu gelangen. Jedes Mal fing uns die türkische Küstenwoche ab. Für jeden Schritt, den wir unserem Ziel näher kamen, warfen sie uns drei Schritte zurück nach Istanbul. Nicht nur meine Frau war seit Wochen schwer krank und erholte sich nicht, mittlerweile hatte es auch meine jüngste Tochter erwischt. Beim fünften Versuch schließlich hatten wir Glück. Anderthalb Tage saßen wir auf einem Boot, das im peitschenden Regen übers Meer tuckerte. Als wir endlich die griechische Küste erreichten, brachte man meine Frau und meine Jüngste sofort mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus. Endlich wurden sie medizinisch behandelt, glücklicherweise ging es ihnen dank der richtigen Medikamente schnell besser. Nach ihrer Entlassung aus der Klinik standen wir zwei Tage lang in einer Schlange von tausenden Menschen. Wir brauchten Papiere, die unsere Ankunft in Griechenland bestätigten. Zwei Tage ohne Essen und Trinken, im kalten Regen. Nie hatte ich so große Angst um meine Familie wie in den Tagen unserer Reise von der Türkei nach Griechenland. Meine Kinder schrien vor Hunger und Durst, meine Frau und ich schrien vor Panik, wenn wir eines unserer Kinder auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in den Menschenmassen aus den Augen verloren hatten.

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Als wir endlich unsere Papiere bekommen hatten, brachte uns ein großes Schiff nach Athen. Über Mazedonien und Serbien ließen wir Grenze für Grenze hinter uns, waren mit Zügen, Bussen, zu Fuß unterwegs, bis wir schließlich in einem Camp in Österreich ankamen. Dort verbrachten wir eine Nacht und einen Tag, bevor wir nach Deutschland reisten. Es gab viele Momente auf diesem Weg, in denen meine Hoffnung schwand. Die Angst, wir könnten es nicht unversehrt schaffen, lief den ganzen Weg an meiner Seite.

Heute und morgen.

Meine Eltern leben noch immer in Samangan. Sie waren zu alt für die Reise, als wir aufbrachen. Mein Bruder ist bei ihnen. Das beruhigt mich, obgleich ich natürlich traurig bin, mich ohnmächtig fühle. Ich denke sehr viel an sie und meine Geschwister und wünschte mir, ich könnte ihnen helfen, das Land ebenfalls zu verlassen.
Ich bin jetzt drei Monate hier. Seit meine Kinder auf der Welt sind, versuche ich ihnen ein gutes Vorbild zu sein. Ich möchte, dass sie wissen, was das Wichtigste im Leben ist. Das Wichtigste im Leben ist in meinen Augen, dass man anderen Menschen hilft. Nie hätte ich gedacht, einmal so sehr auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein wie heute. Ich wünsche mir für meine Kinder und für meine Familie eine friedliche Zukunft. Und ich wäre unglaublich stolz, wenn eines meiner Kinder einmal Arzt sein würde. Ärzte helfen Menschen, denen es nicht gut geht. Ich finde, das wäre eine schöne Art, etwas zurückzugeben. Ich wünsche mir, dass wir hier eine Chance bekommen. Gerne möchte ich wieder als Mechaniker arbeiten. Vorher jedoch muss ich endlich lesen und schreiben lernen. In meiner Heimat war die Not zu groß, als dass meine Familie hätte auf meine Arbeitskraft verzichten können. Hier jedoch brauche ich Bildung, um überhaupt etwas erreichen zu können.

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Nehmatullah Madjidi ist 1985 in Tasch Kurgan (heute Cholm) im Norden Afghanistans geboren. Er hatte nie die Chance, eine Schule zu besuchen. Als Kind verkaufte er Textilien auf Märkten in der Provinz Samangan, brachte sich später autodidaktisch das Schrauben bei und eröffnete eine eigene kleine Kfz-Werkstatt. Mit 19 Jahren heiratete Nehmatullah, heute haben er und seine Frau zwei Söhne und zwei Töchter. In den Kriegen in seinem Heimatland hat Nehmatullah einen seiner Brüder, zwei Schwestern und einen Onkel verloren. Seit drei Monaten ist er mit seiner Frau und seinen Kindern in Berlin. Er wünscht sich eine friedvolle Zukunft für seine Familie und er möchte endlich lesen und schreiben lernen.

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