„Ich verstand die Welt nicht mehr, aber ich spürte, dass sich etwas veränderte in meinem Land.“
N. a.-S.
24 JAHRE ALT,
MUTTER EINES SOHNES (6),
LEHRERIN, RETTUNGSSANITÄTERIN
UND BESITZERIN EINES FRISEURSALONS
Anfang August hatten wir jemanden gefunden, der uns in die Türkei bringen wollte – meine Eltern, meine kleinen Geschwister, meinen Sohn und mich. Meine zwei Brüder waren da noch immer in unserer Heimat im Süden. Sie hatten dort Arbeit; das Geld, das sie verdienten, ermöglichte uns die Flucht. Für sie gab es allerdings nur eine Möglichkeit, unsere frühere Heimat ohne Gefahr für Leib und Leben zu verlassen. Sie mussten sich offiziell von uns, ihrer Familie, und ihrer Glaubensrichtung lossagen.
Als ich ein Kind war, sagten meine Eltern oft zu mir: „Du wirst mal ein Doktor, wenn du groß bist!“ Ich war ein cleveres Mädchen. Ich bin das zweitälteste Kind von fünf Geschwistern. Da sind mein drei Jahre älterer Bruder, ein drei Jahre jüngerer Bruder, meine 16-jährige Schwester und mein kleiner Bruder, das Nesthäkchen, er ist zwölf. Ich bin heute 24 Jahre alt. Zusammen sind wir mehr als eine Familie. Wir sind Freunde, voller Respekt füreinander.
Meine Mutter besaß einen großen Laden für Kosmetik- und Pflegeprodukte – sie war die Königin des Viertels – und mein Vater arbeitete für eines der größten Unternehmen des Landes. Wir waren wohlhabend. Diese Zeit, meine Kindheit, umhüllt ein ganz besonderer Duft, wir feierten große Feste im paradiesischen Garten unseres Hauses. Die süßen Jahre, der kostbare Geschmack von Glück. Jeden Morgen wachte ich um 6 Uhr auf und war kein bisschen müde. Ich hatte eine perfekte Kindheit. Heute öffne ich die Augen, weiß, dass ich wieder nur warten werde, und schließe sie wieder. Schläft das Glück nicht an deiner Seite, kommst du nicht gut aus den Federn. Diese Zeit schmeckt nach nichts.
Woran ich glaubte, spielte in meiner Kindheit keine Rolle. Eine meiner Freundinnen war christlich – einmal die Woche ging ich mit ihr in die Kirche, sie mit mir in die Moschee. Wir beteten zu einem Gott und nannten ihn nur anders. Alle glaubten. Allerdings niemand daran, dass uns die marginalen Unterschiede in unseren Glaubensbekenntnissen einmal zur Gefahr werden.
Ein zerbrochenes Land.
2003 wurde der Mann an der Spitze meines Heimatlandes, der sich Staatspräsident oder Premierminister nannte und Diktator genannt wurde, gestürzt. Dieser Krieg, der zu seinem Sturz führte, dauerte auf dem Papier nur zwei Monate. Seine Nachwirkungen dauern an. Ein ganzes Land lag am Boden und schleichend brachen alte Rivalitäten auf. Oft denke ich an ein Mädchen, das einmal meine beste Freundin war. Wir waren unzertrennlich, gingen viele Jahre lang zusammen durch dick und dünn. Plötzlich distanzierte sie sich. Ich fragte sie, was los sei, sie antwortete mit einer Gegenfrage: „Was ist dein Glaube?“ Ich sagte ihr, dass ich Sunnitin sei und sie schrie mich an, warum ich ihr das nie erzählt habe. Erschüttert drehte sie sich weg und sprach nie wieder ein Wort mit mir. Ich war noch sehr jung, ich verstand die Welt nicht mehr, aber ich spürte, dass sich etwas veränderte in meinem Land. In der Region, die ich meine Heimat nenne, war meine Glaubensrichtung nicht die vorherrschende. In vielen, wenn nicht sogar den meisten anderen Gegenden war das Verhältnis umgekehrt. Bei uns aber waren wir die Minderheit in einem Kampf, der sich in meinen Augen um sinnlose Nichtigkeiten drehte.
2006 wurde die Gefahr für uns zum ersten Mal konkret. Auf dem Weg ins Fitnessstudio wollte mein älterer Bruder einigen Männern helfen, die offensichtlich Probleme mit ihrem Auto hatten. Sie packten ihn, verbanden ihm die Augen, zwangen ihn ins Auto und sperrten ihn an einem unbekannten Ort in eine Toilettenkammer. Gekidnappt, entführt, verschleppt. Nur wenige Stunden später klingelte das Telefon meiner Mutter. Die Entführer forderten ein horrendes Lösegeld und drohten, meinen Bruder Körperteil für Körperteil zurückzuschicken, wenn wir nicht bezahlten. Wir waren nicht arm, aber so viel Geld hatten auch wir nicht. Eine Woche lang verhandelten meine Eltern mit den Entführern, bis sie sich schließlich auf 5.000 Dollar einigten. Meine Eltern bezahlten und mein großer Bruder kehrte heim. Erst einige Tage später erzählte er uns, dass er einen seiner Entführer erkannt hatte. Seine Augenbinde hatte sich gelockert und als einer der Männer ihm Wasser brachte, sah er ihn. Es war unser Nachbar. Wir lebten Tür an Tür mit den Entführern meines Bruders und konnten nur schweigen, wir waren die Minderheit. Latente Bedrohung wurde unsere Normalität.
Die Liebe in Zeiten des Hasses.
In der 11. Klasse verliebte ich mich. Auch er zeigte Interesse, wir wurden ein Paar und verlobten uns schnell. Ein Jahr später heirateten wir – gegen den Willen seiner Familie. Sie waren Schiiten, wir jung und verliebt und gewillt, diesen Konflikt zu überwinden. Ich machte mein Abitur zu Ende und fing an, vormittags als Lehrerin zu arbeiten. Ich unterrichtete eine dritte Klasse in Arabisch, Mathematik und Koranlehre. Wenn ich mittags von der Schule kam, öffnete ich nach einer kurzen Pause die Türen meines eigenen Frisiersalons, den ich mir in unserem Haus eingerichtet hatte. Abends arbeitete ich oft als Rettungssanitäterin. Ich verdiente gutes Geld, wir hatten unser Leben im Griff und eine leise Ahnung von Glück. Bald wurde ich schwanger, 2009 kam unser Sohn zur Welt.
Wir bauten an unserer Idee von einer glücklichen Zukunft, doch diese Pläne durchkreuzte die Familie meines Mannes. Viele seiner Familienmitglieder bekleideten hohe Ämter bei Polizei und Militär. Sie fingen an, mich auszugrenzen, mich zu beschimpfen, bekämpften mich mit allen Mitteln, redeten schlecht über mich. Zunehmend plagte ihn die Angst um unsere kleine Familie. Er ahnte, wozu seine Verwandten in ihrem Hass auf mich, die Sunnitin, fähig waren. „Wir müssen weg“, sagte er, doch ich wollte meine Familie nicht verlassen. Ich schlug ihm vor, dass wir in die Hauptstadt zögen. Knapp 500 Kilometer schienen mir eine ausreichende Distanz. „Weit, ganz weit weg“, antwortete er, „Australien.“ Australien lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, doch sein Entschluss stand fest.
Er verkaufte sein Auto für 10.000 Dollar und ging zunächst allein. Wir sollten nachkommen, wenn er dort Fuß gefasst hatte. Er reiste über Dubai und Malaysia nach Indonesien. Von dort rief er mich noch einmal an. Das war 2010. Er sagte, dass er nun auf das Boot nach Australien ginge. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich habe einen Rechtsanwalt auf seinen Spuren bis nach Indonesien reisen lassen, habe eine ellenlange Liste von Krankenhäusern kontaktiert. Nichts. Ich weiß nicht, ob mein Mann es nach Australien geschafft hat. Ich suche oft bei Facebook nach ihm und manchmal, wenn ihm jemand ähnlich sieht, denke ich kurz, er steht vor mir, hier in Deutschland. Ich vermisse ihn sehr, vorher gab es niemanden und seither auch nicht mehr. Ich warte. Warte auf ein Lebenszeichen, wie ohnehin das Warten meine Tage füllt. Ich ertrage diese Warterei nicht mehr. Sitze ich am Computer und eine Internetseite lädt nur langsam, schließe ich ungeduldig den Browser. Ich laufe, wenn die Anzeigetafel meine Bahn erst in acht Minuten ankündigt. Oder ich steige in anderer Richtung ein und fahre meiner Bahn entgegen, damit ich in Bewegung bleibe. Ich will nicht mehr warten. Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.
Zurück zur Familie.
Ich war nun allein mit unserem neun Monate alten Sohn. Also ging ich zu meiner Familie zurück und entkam doch seiner nicht. Sie wollten meinen Sohn, ihren Enkel. Ihr Einfluss auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens, ob Polizei oder Armee, ließ sie tun, was sie wollten. Wehren konnten wir uns nicht. Um keinen Preis der Welt hätte ich meinen Sohn hergegeben. Er hatte nur noch mich. Ich ahnte, dass wir gehen müssten und blieb beinahe zu lang.
Wir lebten in ständiger Angst vor seiner Familie, ein zermürbendes Gefühl subtiler Bedrohung, bis die Situation 2012 eskalierte. Eines Mittags, um Punkt 13 Uhr, stürmten bewaffnete Männer unser Haus und schossen um sich. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Wir kannten es, wenn Bomben fielen, Feuergefechte ausbrachen. Unser Land war vom Krieg gebeutelt, wir gewöhnten uns an diese Form der Gewalt. Was jetzt geschah, war perfider. Eine abscheuliche Gewalt, die vollkommen unvermittelt über uns hereinbrach und vor der es keinen Schutz gab. Das Eindringen in unser Haus war nicht das Schlimmste. Vier meiner Onkel bedrohte man zu dieser Zeit in unserer Nachbarschaft mehrfach auf dem Weg in ihre Moschee. Sie ließen sich nicht beirren. Auf dem Heimweg stach man sie eines Tages einfach nieder, aus dem Hinterhalt, mitten auf der Straße. Drei von ihnen waren sofort tot. Meinem vierten Onkel stachen Sie in den Oberkörper. Schwer verletzt rannte er los, schaffte es gerade bis nach Hause. Er schleppte sich ins Schlafzimmer, in dem meine Tante noch schlief. Er weckte sie, brach zusammen und starb in ihren Armen. Mein Vater entschied, dass wir umziehen müssten.
Mein „Wir“, meine Familie, lebte fortan verteilt auf drei Häuser in der Stadt. Meine Mutter, meine jüngeren Geschwister, mein Sohn und ich zogen ins Haus meines Großvaters, mein großer und mein etwas jüngerer Bruder blieben in unserem Haus, mein Vater zog ins Haus meiner Tante. Es dauerte nur 20 Tage, bis die Männer, die schon unser altes Haus stürmten, auch das Haus meines Großvaters fanden. Mir war klar, wer diese Männer schickte, es ging um meinen Sohn. Wieder kamen sie um 13 Uhr, wieder schossen sie um sich, verletzten aber niemanden. Ihre Mission war es, Angst und Schrecken zu verbreiten und uns unmissverständlich klarzumachen, dass wir hier, in dieser Region, die doch auch unsere Heimat war, nichts mehr verloren hatten.
Auf der Flucht im eigenen Land.
Mein Großvater war 90 Jahre alt und gebrechlich, meine Großmutter 80 und schwer krank. Eine Reise war ihnen nicht zuzumuten. Mein Vater weigerte sich noch, seine Heimat zu verlassen, doch mein älterer Bruder bestand darauf, dass wir gingen. Er wusste wie ich, dass diese Leute immer wieder kommen würden, so lange mein Sohn hier war. Mein älterer und mein drei Jahre jüngerer Bruder blieben bei meinen Großeltern. Meine Eltern, meine jüngeren Geschwister, mein Sohn und ich brachen Ende 2013 auf. Aus dem tiefen Süden unserer Heimat in eine Stadt im Norden, 800 Kilometer weit weg. Dort waren die Sunniten in der Mehrheit und wir, so hofften wir, außer Gefahr.
Wir lebten in einem Randbezirk, im Zentrum patrouillierten Polizei und Militär. Unser Leben schien sich zu normalisieren. Doch die Bedrohung kehrte schnell zurück, als nach einem halben Jahr der IS nur ein paar Straßen entfernt an der Stadtgrenze Stellung bezog. Keine Gefahr für uns, dachten wir, wir sind Sunniten. Allerdings fand der IS heraus, woher wir kamen, und nun glaubten sie uns genau das nicht mehr, weil unsere Heimat als Hochburg der Schiiten galt. Da war sie wieder, die Angst, nun bedroht von vermeintlichen Anhängern unseres eigenen Glaubens. Eine bizarre Situation, doch immerhin hielten Polizei und Militär die Bedrohung hier, so gut es ging, in Schach. Bis Anfang dieses Jahres.
Im Januar lieferte sich der IS schwere Gefechte mit der irakischen Armee und wir lebten mitten auf dem Schlachtfeld, zwischen den Fronten. In der ersten Nacht verbarrikadierten wir uns in einem Geschäft. Am nächsten Morgen lagen fünf tote Jungs vor dem Laden. Wir flüchteten ins Zentrum, weil wir dort unter dem Schutz der Armee standen. Zusammen mit 3.000 Menschen lebten wir zehn eisig kalte Tage und Nächte auf der Straße. Als das Militär die Lage im Griff hatte, kehrten wir zurück in unsere Häuser, aber wir lebten wieder in ständiger Angst. Angriffe, Explosionen, Morde, Terror und Elend.
An einem Frühlingstag dieses Jahres ging mein Vater vor die Tür, um Einkäufe zu erledigen. Nur wenige Minuten Fußweg von unserem Haus gab es einen großen, belebten Platz mit vielen Geschäften. Ich blieb zu Hause, bis ich einen dumpfen Knall vernahm. Der Boden wackelte. Ich ging raus, fragte einen Mann ob er wisse, wo es passiert sei. Ich wusste, wie Bomben klingen. „Oben, auf dem Platz“, sagte er. Das Handy-Netz war zusammengebrochen, in panischer Angst um meinen Vater rannte ich einfach los. Als ich am Platz ankam, sah ich überall tote Menschen, verstümmelte und zerfetzte Leichname. Viele Kinder unter ihnen, gerade erst fünf oder sechs Jahre alt. Ich irrte umher, ein kleiner Junge rannte schreiend an mir vorbei zu seiner Mutter, zeigte auf den Torso eines Kindes, dessen Kopf abgetrennt war. Der Junge schrie seine Mutter weinend an: „Mama, Mama, mein Freund ist tot. Sein Kopf, sein Kopf, wir müssen seinen Kopf retten“. Einige Meter weiter ein Auto, vollkommen zerstört, darin ein Brautpaar. Sie im weißen Hochzeitskleid, er im Anzug, beide blutüberströmt. Sie suchten das Glück und fanden den Tod.
Meine Verzweiflung wich und mich packte eine ungeheure, unbändige Wut. Wo ist dieser Gott, um den man hier streitet, warum lässt er das zu? Worum geht es hier? Um Öl? Nehmt das verdammte Öl. Nehmt das Öl und gebt uns Frieden. Wir brauchen es nicht, wir können arbeiten. Wir wollen nur glücklich sein. Dann fand ich meinen Vater, unversehrt. Uns wurde klar, dass wir in diesem Land keinen Frieden finden würden.
Aufbruch. Zeit, zu gehen.
Anfang August hatten wir jemanden gefunden, der uns in die Türkei bringen wollte – meine Eltern, meine kleinen Geschwister, meinen Sohn und mich. Meine zwei Brüder waren da noch immer in unserer Heimat im Süden. Sie hatten dort Arbeit; das Geld, das sie verdienten, ermöglichte uns die Flucht. Für sie gab es allerdings nur eine Möglichkeit, unsere frühere Heimat ohne Gefahr für Leib und Leben zu verlassen. Sie mussten sich offiziell von uns, ihrer Familie, und ihrer Glaubensrichtung lossagen. Erst wenn sie das taten, wenn sie offiziell zu Protokoll gaben, dass ihnen unser Schicksal gleichgültig sei, hatten sie eine realistische Chance, die Region heil zu verlassen. Mein älterer Bruder hatte gerade geheiratet, sie waren nun zu dritt und beschlossen, diesen Schritt erst zu wagen, wenn wir in Sicherheit waren – in der Türkei.
500 Dollar bezahlten wir pro Person, 3000 Dollar in Summe. Der Mann brachte uns mit seinem Auto allerdings nur bis vor die syrische Grenze zur Türkei. Von dort wanderten wir im Schutz der Berge weiter, schliefen nachts im Freien. Für weitere 100 Dollar pro Person fuhr uns schließlich jemand über die Grenze, in Richtung Antakya. Eine Fahrt von fünf, höchstens zehn Minuten, 600 Dollar.
Wir warteten 25 Tage in der Türkei, bis endlich auch mein jüngerer Bruder und mein großer Bruder mit seiner Frau eintrafen. Fast zwei Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Wir gingen gemeinsam weiter, fuhren mit Zügen und Autos quer durch die Türkei, bis wir eines Nachts auf ein Boot stiegen, um nach Griechenland zu kommen. Unsere Schlepper verlangten für die Passage 1.200 Dollar pro Person. Neun Personen, 10.800 Dollar– ein vergleichsweise guter Preis. Mein Onkel, der zwei Monate früher aufgebrochen war, zahlte 4.500 Dollar für nur einen Platz auf dem Boot.
Nie zuvor hatte ich etwas derart Tiefschwarzes gesehen wie das Mittelmeer in jener Nacht. Unser Boot war sieben Meter lang. Fast 50 Menschen in Rettungswesten zwängten sich mit Gepäck darauf. Wir fuhren hinaus, immer weiter auf das offene Meer, bis plötzlich der Motor ausging. Der Tank war leer. Die Leute drängelten, fielen, lagen übereinander. Ich sah meine Mutter, die ohnmächtig geworden war und dachte, ich hätte sie verloren. Mein Bruder ertrug den Anblick seiner Frau nicht, die zwangsläufig auf dem Schoß eines Fremden, eingepfercht zwischen anderen Männern saß. Er wurde hysterisch, fing an zu schreien und sich aus Wut und Scham selbst zu verletzen. In dieser Hektik verlor ich meinen Sohn aus den Augen. Ich fand ihn wieder, eingeklemmt zwischen erwachsenen Menschen, von denen keiner mehr die Kraft für Rücksicht hatte. Sein Gesicht war blau angelaufen, die Pupillen verdreht, Tränen kullerten über seine Wangen. Ich dachte, er stirbt. Ich kämpfte mich zu ihm, griff nach seiner Hand, schüttelte ihn. Dann schaute mein Sohn mich an und sagte: „Alles gut, Mama, wir schaffen das.“ Ein sechsjähriges Kind. Er war so tapfer und ich so verletzt, weil dieser Junge – irgendwo auf dem Meer zwischen der Türkei und Griechenland – plötzlich kein Kind mehr sein durfte.
Als schließlich noch Wasser ins Boot lief, gerieten auch die letzten Passagiere in Panik. Wir schrien in die dunkle Nacht hinaus nach Hilfe und hatten das große Glück, dass uns die griechische Küstenwache fand. Sie brachten uns an Land. Dort harrten wir zwei Tage in einem kleinen Raum aus, bevor uns ein Schiff nach Kavala brachte. Von dort aus führte unsere Fluchtroute über Bulgarien, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich schließlich nach Deutschland. Am 5. Oktober dieses Jahres erreichten wir München. Einen Tag später Berlin.
Ankunft in der Fremde.
Meine Mutter, mein Vater, meine vier Geschwister, die Frau meines Bruders, mein Onkel, mein Sohn und ich – wir haben es geschafft. Alles, was wir besaßen, ließen wir zurück. Die wenigen Habseligkeiten, die wir mitnahmen, liegen auf dem Grund des Mittelmeeres. Unsere Flucht kostete uns alles Geld, das wir hatten. Aber wir leben. Es sind nicht mehr die Ängste, Gefahren, Schmerzen meines früheren Lebens oder die Erfahrungen meiner Flucht, die mich lähmen. Mich lähmt jetzt vielmehr die Hilflosigkeit, die Ahnungslosigkeit. Nicht zu wissen, wie unsere Zukunft aussieht, treibt mich in den Wahnsinn. Wir stehen tagelang vor dem LaGeSo, wissen nicht, was wir tun können, wie wir einen Beitrag leisten können. Ich möchte lieber die Straße fegen, um Geld zu verdienen, als auf der Straße nach Geld anzustehen. Die Menschen bringen uns Nahrungsmittel, Kleidung, das ist großartig. Die Deutschen behandeln uns gut, sie sind sehr hilfsbereit. Dafür bin ich dankbar. Aber in meiner Heimat war doch ich diejenige, die anderen geholfen hat. Gestern waren wir noch reiche Leute, heute sind wir Flüchtlinge. Es fällt mir schwer, um Hilfe zu bitten.
Zukunftspläne.
Ich könnte als Übersetzerin arbeiten. Ich spreche Arabisch, Englisch, lerne Deutsch, jeden Tag mehrere Stunden. Als Übersetzerin könnte ich anderen Menschen helfen, die in einer ähnlichen Situation sind. Aber das Lernen fällt mir schwer an einem Ort wie diesem hier, in dieser Turnhalle. Um 22 Uhr geht das Licht aus, an manchen Tagen geht es gar nicht erst an. Es ist laut, erst tief in der Nacht kehrt Ruhe ein und schon in den frühen Morgenstunden wachen die ersten Kleinkinder auf. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich etwas erreichen kann. Ich will nicht, dass diese kostbare Zeit in meinem Leben ungenutzt an mir vorbeizieht. Viele meiner Sätze beginnen mit dem Wort „ich“, die wichtigsten aber sind: Ich bin dankbar und ich möchte etwas zurückgeben. Dürfte ich es mir aussuchen, hätte ich nur zwei Wünsche: Eine Wohnung, in die ich mich zurückziehen kann, einfach mal die Kleidung ablegen und entspannen. Ich brauche einen Ort für mich, an dem ich ganz allein bin, ohne Menschen, ohne Gespräche – einen Rückzugsraum, in dem ich Kraft schöpfen kann. Mein zweiter Wunsch klingt eigenartig, ich wünschte, ich könnte in Deutschland bei der Polizei arbeiten. Oft habe ich mich gefragt, woher dieser Wunsch kommt, in meiner Heimat hatte ich solche Gedanken nicht. Ich glaube, ich möchte endlich eine starke Frau sein. Zu lange haben andere Menschen versucht, mich kleinzumachen, mir einzureden, ich sei schwach. Wegen meiner Glaubensrichtung, später wegen meines Sohnes, den man mir nehmen wollte. Ich will nicht mehr still sein. Ich glaube, als Polizistin bekäme ich etwas von dem Gefühl zurück, stark zu sein. Wenn ich mich stark machen kann für andere.
Ich möchte den Deutschen zeigen, dass wir gute Menschen sind, die nur weniger Glück hatten. Ich wünschte mir, dass meine Heimat wieder auf die Beine kommt. Aber wenn etwas so kaputtgeht, bleibt immer etwas zurück. Ein gebrochenes Glas kannst du kleben, aber wahrscheinlich erfüllt es seinen Zweck dann nicht mehr. Und die Bruchstellen bleiben für immer sichtbar. Ich habe keine Ansprüche. Alles, was für mich zählt, sind Fragen des Seins. Ich will sein dürfen, in Sicherheit. Dazu brauche ich nur eine kleine Chance. Ich will lernen, ich will arbeiten, ich will mein Bestes geben für dieses Land, das mich und meine Familie mit offenen Armen empfangen hat. Ich will ein Mitglied dieser Gesellschaft sein und ich will nicht, dass Menschen Angst haben, ich könnte ihnen etwas wegnehmen. Ich kann gerade, in diesem Augenblick, nur nehmen. Aber der Tag, an dem ich arbeiten darf, wird der Tag sein, an dem ich anfange zu geben. Ich möchte eine Deutsche sein, eine Berlinerin. Mein Sohn ist sechs Jahre alt, er soll zur Schule gehen wie ein ganz normales Kind. Ich möchte dieses Gefühl, nicht mehr sein zu dürfen, wo ich herkomme, aber auch noch nicht angekommen zu sein, wohin ich ging, nicht mehr spüren. Ich will ankommen dürfen.