HAMED

„Ich bin seit 50 Tagen in Deutschland. Das sind die ersten 50 Tage meines Lebens, an denen ich keine Angst hatte.“

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H.H.
31 JAHRE ALT,
2012 GESCHIEDEN,
VATER ZWEIER KINDER (7/13),
BERUFSWUNSCH: KAMERAMANN

Ich bin 1984 geboren, habe fünf Brüder und vier Schwestern. Die Bevölkerung meiner Heimat ist tief gespalten, die Geräusche meiner Kindheit sind Geräusche des Krieges. Seit ich denken kann, schlittert mein Heimatland von einer Krise in die nächste und jedes Mal, wenn ich hoffte, jetzt könnte es endlich besser werden, die Angst aufhören, gingen die Auseinandersetzungen von vorn los. Das Einzige, was sich änderte, waren die Gesichter der Bedrohung.

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Als ich alt genug war, um in die Schule zu gehen, gab es in meiner Heimat keine öffentlichen Schulen mehr. Nach einem zehn Jahre dauernden Krieg zogen gerade die Russen von dannen. Zurück blieb ein zerstörtes Land, allerorten Agonie. Wer noch konnte, ließ die Heimat hinter sich. In einer privaten Schule hatte ich wenigstens die Möglichkeit, schon als Kind ein bisschen Englisch zu lernen.

1994, ich war gerade zehn Jahre alt, startete abermals eine Terromiliz den Versuch, die Macht im Lande an sich zu reißen. Mehrfach attackierten sie die Hauptstadt, in der ich lebte, ihre blutigen Angriffe galten der Zivilbevölkerung. Diese Terrormiliz formierte sich zuvor im Ausland. Flüchtlinge waren ihre Rekruten, Menschen, die einige Jahre zuvor ein kriegsversehrtes Land verließen. Seit bald 40 Jahren herrscht in meiner Heimat Krieg. Ich hatte als Kind schon den Willen, diesem Teufelskreis zu entfliehen, ich wollte etwas aus meinem Leben machen, etwas erreichen. Doch der Krieg fraß zuerst die Chancen und danach die Träume. Meine Kindheitserinnerungen sind Tränen, die Suche nach Verstecken vor Bomben, Angriffe, Explosionen, Geschrei.

Mein Land hatte keine Zukunft, doch ich wollte eine. Mit 13 Jahren ging ich allein in den Iran. Ich brach auf – und mit dieser Entscheidung meinen Eltern das Herz. Mich trug die große Hoffnung, dass dort eine bessere Welt auf mich wartet. Ein frommer Wunsch, nichts wurde besser. Ich wollte zur Schule gehen und durfte es nicht, weil ich ein Flüchtling war. Ich wollte einen Beruf lernen und durfte es nicht, weil ich ein Flüchtling war. Alles, was ich mir wünschte, war mir untersagt. Weil ich mein Land verlassen hatte, um ein besseres Leben zu finden. Alles, was mir der Iran mit 13 Jahren bot, war eine knochenharte Tagelöhner-Existenz, Hilfsarbeiterjobs auf den Baustellen derer, die bessere Startbedingungen ins Leben hatten als ich.

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Drei Monate nach meiner Ankunft im Iran kam mein Vater zu Besuch. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie es mir geht. Ich hatte das Glück, bei entfernten Verwandten von uns wohnen zu können. Er sah, dass ich in Sicherheit war, aber auch, wie hart ich arbeitete. Und obwohl jeder einzelne Knochen, jede Sehne meines Körpers schmerzte, sagte ich ihm, dass alles in Ordnung sei und er beruhigt zurückfahren könne. Er glaubte mir zunächst nicht. Erst als ich ihm sagte, dass meine Situation gerade, in diesem Moment, nicht die beste sei, ich aber das Gefühl habe, dass es bergauf ging, dass ich Schritt für Schritt vorankam, ging er zurück. Ich spürte das nicht, aber ich wollte es ihn spüren lassen. Immer häufiger kam es in unserer Heimat mittlerweile zu Massakern gegen die Zivilbevölkerung. Ich ahnte und wünschte mir, dass ich ihn bald wiedersehe. Und so kam es: Meine ganze Familie flüchtete bald darauf und sollte bis 2002 im Iran bleiben, bis sich ein politischer Wandel in unserer Heimat abzeichnete.

Ich blieb, denn ich hatte gerade ein Mädchen kennengelernt. Wir heirateten, kurz darauf kam unser Sohn zur Welt. Zwar war ich nun mit einer Iranerin verheiratet, ich blieb aber der Flüchtling. Ein Makel, den man mir ansah wie eine Narbe im Gesicht, auf die man mich immer wieder ansprach.

Aufgrund der politischen Entwicklungen in meiner Heimat – die Verhältnisse schienen sich zu stabilisieren – hatte ich die leise Hoffnung, dass auch unser Leben dort eine positive Wendung nehmen konnte. Ich wollte meiner Frau etwas bieten. Im Iran war das nicht möglich. Seit über fünf Jahren erzählte man mir nun, dass ich mich beweisen müsste, die harten Jobs von heute mein Wegzoll in ein besseres Leben morgen seien. Ich versuchte mich weiterzubilden. Ich habe ein Talent für Sprachen, lernte viel und entdeckte einen meiner Kindheitsträume wieder. Ich wollte, wie mein großer Bruder, Kameramann werden. Aber ich steckte seit Jahren in einer Mühle aus miserablen Aushilfsjobs und sie sagten immer, dass ich irgendwann aufsteigen könnte. Mir war recht klar, dass dieses „Irgendwann“ ein Tag in ferner Zukunft war und ich mich zuvor zu Tode geschuftet hätte. Ich blieb der Flüchtling, in vieler Leute Augen ein minderwertiger Mensch.

Wir gingen in meine Heimat. Doch auch unter einer demokratisch legitimierten Regierung war die Situation nicht minder aussichtslos. Auch hier gab es keine Jobs. Zwar arbeitete ich für eine britische Organisation als Übersetzer in einem Waisenhaus, aber es war nicht absehbar, dass sich unsere Lage besserte. Zumal ich, mit meiner Arbeit für Ausländer, zum Erzfeind vieler Menschen wurde. In Ihren Augen machte ich mich mit dem Feind gemein. Hinzukam die enorme Luftverschmutzung in meiner Heimatstadt. Meinen Sohn machte der Smog krank. Auch meiner Frau, die wieder schwanger war, machte der Dreck zu schaffen. Sie sagte, dass es uns im Iran immerhin noch besser ging als hier. Für sie stimmte das. Für mich boten beide Orte nur Desillusion, aber hier sah man in mir wenigstens etwas mehr als den Eindringling. Auf Drängen meiner Frau kehrten wir dennoch zurück in den Iran.

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2007 kam unsere Tochter zur Welt. Die folgenden Jahre waren wieder gepflastert von Schikanen seitens der Regierung gegen mich, den Flüchtling. Wenn man mir nicht gerade meine Arbeitserlaubnis abspenstig machte, obwohl ich mit einer Iranerin verheiratet war, wanderte ich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob.

Immer noch hatte ich den großen Traum, Kameramann zu werden. Oft hatte ich früher meinem Bruder assistiert, der sein Geld mit Hochzeitsfilmen verdiente. Kameramann – ein Beruf, der mir im Iran verwehrt blieb, weil ich ihn als Flüchtling nicht ausüben durfte. Allerdings hatte ich mittlerweile viele iranische Freunde. Sehr gute Menschen, die mir halfen, wo sie konnten. Einer meiner Freunde beantragte in seinem Namen eine Lizenz, mit der er als Kameramann arbeiten durfte. Als Iraner bekam er sie problemlos. Unter seiner Lizenz fing ich an, Filme zu machen und wenn uns jemand fragte, was ich da tat, war ich eben sein Assistent.

Wir drehten mehrere dokumentarische Kurzfilme, die von meinen Erfahrungen im Iran handelten. Einer dieser Filme reflektierte die Tatsache, dass ich keine Fahrerlaubnis machen durfte, ein anderer Film erzählte vom Schulverbot für Flüchtlingskinder. Wir hatten keine Möglichkeiten, diese Filme zu zeigen. Wir drehten Filme ohne Publikum, aber ich konnte – in meiner wenigen Freizeit – endlich tun, was ich tun wollte. Die Frage, warum man uns zu Menschen zweiter Klasse degradierte, warum wir als Flüchtlinge überall mit Verboten konfrontiert waren, warum wir zurückbleiben mussten innerhalb der Stadtgrenzen Teherans, wenn unsere iranischen Freunde Ausflüge ins Umland machten oder verreisten, warum man uns immer nur sagte, was wir nicht durften, wurde zum zentralen Thema meiner Arbeiten. Geld verdiente ich damit nicht.

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Hinsichtlich meiner Brotjobs kam ich keinen Schritt weiter. Als mein Sohn schließlich in die Schule kommen sollte, bekam auch er die Last meiner Herkunft zu spüren. Mit einem Flüchtling als Vater war es ein Kraftakt, eine reguläre Schulerlaubnis für ihn zu bekommen. Mir waren die Hände gebunden und es verletzte mich zu sehen, dass nun auch meine Kinder auf die gleiche Ablehnung stießen, die ich seit Jahren erfuhr.

Ich war qua Geburtsort dazu verdammt, ein Hilfsarbeiter zu bleiben in diesem Land. Auch meine Frau hatte erkannt, dass unser Lebensweg eine Sackgasse war und ertrug diese Vorstellung nicht mehr. Sie wünschte sich ein besseres Leben, das ich ihr nicht bieten konnte. Vor drei Jahren ließ sie sich von mir scheiden. Ich verlor nicht nur sie, sondern auch meine Kinder und den Schutz, den mir meine Ehe mit einer Iranerin in diesem Land noch bot. Schnell befanden offizielle Stellen über meine Abschiebung und ich musste zurück in meine Heimat.

Wieder arbeitete ich dort als Übersetzer – diesmal für die ISAF – und wieder wurde ich dadurch zur Zielscheibe vieler meiner Landsmänner. In Ihren Augen konnte jemand, der mit ausländischen Organisationen kollaborierte, kein aufrichtiger Muslim sein. Ich war nun Ende 20, perspektivlos, angefeindet, Freiwild für Milizen – ungebrochen aber war mein Drang nach einem besseren Leben. Dieser Drang wuchs nur, weil ich meinen Kindern ersparen möchte, was ich erleben musste. Auch sie bleiben die Kinder eines Flüchtlings im Iran, dieser Makel haftet an ihnen wie Pech und legt ihnen schon jetzt Steine in den Weg. Erstmals keimte in mir der Gedanke an eine Flucht nach Europa auf.

Ich organisierte meine Flucht noch in meiner Heimat, im September begann die Reise – zu Fuß in die Türkei. Jede Nacht zehn Stunden im Regen über die Berge. In der Türkei bin ich mit 35 Mann an Bord eines Bootes nach Griechenland gegangen. Unser Gepäck – in diesem Moment unnötiger Ballast – ließen wir zurück. Von Griechenland ging es mit dem Zug weiter in die Slowakei. Überall, wo ich ankam, stand ich in Schlangen. Ahnungslos machte ich mich auf den Weg in ein Leben ohne Angst, aber die Angst war mein ständiger Begleiter. Ich hatte nur sehr wenig Geld mitgenommen, weil ich Angst hatte, auf dem Weg überfallen und ausgeraubt zu werden. In den Flüchtlingslagern bekam ich nichts zu essen.

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Erst als ich in Österreich ankam, fiel die Anspannung langsam ab. Ein sauberes Camp nach vier Wochen Flucht, endlich konnte ich wieder duschen. Von Österreich aus schickte man mich weiter nach München, von München nach Berlin. Hier ging ich zur Polizei, sagte, wer ich bin und dass ich nicht wisse, wo ich hinsollte.

Seit 50 Tagen bin ich in Berlin. Ich bin 31 Jahre alt und das sind die ersten 50 Tage meines Lebens, an denen ich keine Angst habe. Die ersten 50 Tage eines Gefühls von innerem und äußerem Frieden. Ich spüre zum ersten Mal, wie sich Leben anfühlen kann. Die Menschen hier sind nett und herzlich. Sie wollen uns helfen, sie bringen uns die Sprache bei, laden uns zu sich nach Hause ein. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und werde, so fühlt es sich an, endlich wie ein Mensch behandelt. Die Leute schauen mir ins Gesicht und sehen nicht nur den Flüchtling. Ich spüre diesen Makel nicht mehr, seit ich hier angekommen bin. In 31 Jahren meines Lebens bin ich nicht einer solchen Aufgeschlossenheit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft begegnet. Iran war allemal sicherer als meine Heimat, aber auch dort lebte ich in ständiger Angst. Es musste nur jemand willkürlich an den Stellschrauben außenpolitischer Beziehungen zwischen dem Iran und meiner Heimat drehen, schon drohte mir die Abschiebung. Ich hatte längst vergessen, wie es sich anfühlt, in Sicherheit zu sein.

Ich beginne gerade ein neues Leben. Jeden Morgen wache ich auf und fühle mich wie ein Kind, das in einer Welt ankommt, die es noch nicht ganz versteht. Aber dieses Kind spürt, dass es eine gute Welt ist. Ich fühle mich wie neu geboren, aber das hat auch zur Folge, dass ich von Null anfange. Ich muss laufen, sprechen, leben lernen in dieser neuen Welt. Und abends gehe ich ins Bett und weiß, dass es jeden Tag besser wird.

Einer meiner Brüder lebt noch im Iran. Er sieht meine Kinder oft. Meine Ex-Frau hat mittlerweile wieder geheiratet. Jedes Mal, wenn mein Sohn und meine Tochter bei meinem Bruder sind, telefonieren wir. Sie fragen mich, wie das Leben hier ist und ich finde keine passenden Worte. Ich sage ihnen nur, dass ich gerade lerne, was Leben bedeutet. Mein Sohn sagt dann immer, dass ich schnell Deutsch lernen soll, damit ich ihm später bei der Sprache gut helfen kann.

Ich bin nur wegen meiner Kinder hier. Ich möchte, dass sie in einer besseren Welt aufwachsen. Sie sind jetzt 13 und 7 Jahre alt. Alt genug um zu spüren, wie manche Menschen im Iran mit ihnen umgehen. Ich möchte hier etwas aus meinem Leben machen und meine Kinder nachholen, sobald ich für sie sorgen kann. Meine Ex-Frau ist damit einverstanden.

Um an diesen Punkt zu kommen, will ich ein hervorragender, professioneller Kameramann werden. Meine neuen deutschen Freunde haben mich zwei Regisseuren vorgestellt. Sie möchten sehen, was ich kann, wenn ich arbeiten darf. Zum ersten Mal in meinem Leben schlägt mir niemand die Tür vor der Nase zu, wenn es um meinen Traumberuf geht. Ich bin euphorisch, weil sich dieser Ort so gut anfühlt für mich. Ich weiß aber auch, dass ich Geduld brauche. Schritt für Schritt versuche ich, in dieser Welt, in dieser Gesellschaft anzukommen. Vielleicht kann ich schon in einem Monat ein eigenes kleines Zimmer beziehen und schlafe nicht mehr in der Turnhalle.

Ich habe gerade das Gefühl, mich aus einer 31 Jahre währenden Lähmung frei zu strampeln. Wenn ich irgendwann so weit bin, möchte ich einen Film über meine Geschichte machen. Einen Film, der zeigt, was ich in den vergangenen 31 Jahren erlebt habe: Die Geschichte eines Mannes, der sein Leben in die Hand nehmen wollte, immer wieder Beine gestellt bekam, in der Fremde ein Flüchtling ohne Rechte war und in der Heimat ein Feind. Die Geschichte eines Mannes, der mit 31 Jahren eine Chance bekommt, alles zu lernen, was ihm immer versagt blieb. Das Ende dieses Films, das ist mein größter Wunsch, zeigt einen Vater, der mit seinen beiden Kindern, dafür aber ohne Angst, frei und in Frieden hier leben und arbeiten darf.

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Hamed Hoseini ist 1984 in Kabul geboren. Angesichts der desolaten Lage in seinem Heimatland entschloss er sich mit 13 Jahren in den Iran zu gehen. Gegen den Willen seiner Eltern – in der Hoffnung auf eine gute Ausbildung und die Chance, etwas aus seinem Leben machen zu dürfen. Er heiratete eine Iranerin, blieb aber vom ersten bis zum letzten Tag der afghanische Flüchtling. Gefangen in Hilfsarbeiterjobs mit miserabler Bezahlung rückte sein eigentlicher Berufswunsch – Kameramann – in die Ferne. Seit Ende Oktober ist Hamed Hoseini in Berlin und hofft, seine beiden Kinder nach Deutschland holen und endlich als Kameramann arbeiten zu dürfen.

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