„Es geht nicht um meine Zukunft. Ich bin diesen Weg für meine Töchter gegangen.“
A. H.,
27 JAHRE ALT,
VERHEIRATET, FÜNF TÖCHTER,
ARBEITER, MUSIKER
Mein Vater, der schon in seiner Heimat nicht gut darin war, Unrecht zu ertragen, setzte sich vom ersten Tag für Menschen ein, die im Iran Zuflucht suchten. Schnell war sein Engagement vielen Leuten in Kerman ein Dorn im Auge. Ständig versuchten Lokalpolitiker meinen Vater zu korrumpieren in der Hoffnung, er würde den teilweise menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen im Iran nicht weiter thematisieren. Ich spürte, dass das Wort meines Vaters Gewicht hatte. Weil er sich nicht kaufen ließ.
Die Fluchtgeschichte meiner Familie hat – genau genommen – schon begonnen, als ich noch nicht einmal geboren war. Noch Jahre vor meiner Geburt, in den frühen Achtzigern, kämpfte mein Vater in dem Land, das meine Eltern Heimat nennen, als Mudschahed gegen die Russen und die kommunistische Regierung. Was als Widerstand gegen sowjetische Truppen begann, wurde zusehends zu einem blutigen Krieg. Oft rieten Verbündete damals schon meinem Vater, er sollte das Land verlassen solange es ihm noch möglich ist. Doch mein Vater blieb. Erst als sich abzeichnete, dass er nicht mehr nur gegen die Russen kämpfte, sondern auch gegen seine eigenen Landsleute, gegen jene Afghanen, die sich nun auf die Seite der Russen schlugen, beschloss mein Vater, dass er diesen Kampf nicht ausfechten wollte, und das Land zu verlassen.
Seinerzeit erfuhren die Mudschaheddin in ihrem Guerilla-Kampf Unterstützung seitens der USA, aber auch von Pakistan oder Saudi-Arabien. Bei der Wahl seines Exils standen ihm viele Türen offen. Er hätte in die USA gehen können, sogar Deutschland war eine Option, die man ihm anbot. Für meinen sehr gläubigen Vater kam aber nur ein muslimisches Land in Frage. Meine Familie ging in den Iran, nach Kerman, eine große Stadt auf einer Hochebene, beinahe von Bergen umzingelt. 1988 kam auch ich dort zur Welt. Ich hatte sechs Brüder und zwei Schwestern. Zwei meiner Brüder leben heute nicht mehr.
Als Flüchtlinge trat man unsere Rechte in Kerman stets mit Füßen. Mein Vater aber, der schon in seiner Heimat nicht gut darin war, Unrecht zu ertragen, setzte sich vom ersten Tag für uns und andere Menschen aus anderen Ländern ein, die im Iran Schutz und Zuflucht suchten. Lautstark, nicht hinter vorgehaltener Hand. Schnell war sein Engagement vielen Leuten in Kerman ein Dorn im Auge, Drangsal für uns an der Tagesordnung. Ich kannte kein anderes Leben und wuchs mit diesem Gefühl auf. Ständig versuchten Lokalpolitiker meinen Vater zu korrumpieren in der Hoffnung, er würde den teilweise menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen nicht weiter thematisieren. Ich spürte, dass das Wort meines Vaters Gewicht hatte, dass er etwas auslöste. Auch und wahrscheinlich gerade weil er sich nicht kaufen ließ. Als sie das erkannten, blieben die Versuche, ihn mundtot zu machen, aus. Hatten sie gestern noch versucht, meinen Vater zu bestechen, fingen sie nun an, unserer Familie auf verschiedene Weisen Angst einzujagen, damit wir verstünden, dass Kerman uns keine Sicherheit mehr bot.
Am letzten Schultag meines Lebens war ich 13 Jahre alt und wir kehrten Kerman den Rücken, Ziel: Teheran. Meine Schulerlaubnis galt nur für Kerman, für Teheran bekam ich keine. Also musste ich arbeiten, was mir offiziell aber ebenso verboten war. Schwarzarbeit war der einzige Weg, Geld für mich und meine Familie zu verdienen – knochenharte, miserabel bezahlte Arbeit auf den prunkvollen Baustellen der Hauptstadt. Ich entdeckte die Musik, sang oft mit meinem Bruder und spielte Klavier, wann immer sich eine Gelegenheit bot, mir also ein Klavier begegnete. So zogen die Jahre ins Land. Ich schuftete, während wir jederzeit damit rechnen mussten, wieder Ärger mit den Behörden zu bekommen. Schließlich war unsere Aufenthaltserlaubnis ursprünglich auf die Provinz Kerman beschränkt.
In Teheran lernte ich auch meine spätere Frau kennen. Wir heirateten, als ich 19 Jahre alt war, und bald kam unsere erste Tochter zur Welt. Heute, nur acht Jahre später, bin ich Vater von fünf Mädchen, meine jüngste Tochter ist gerade erst zwei Monate alt.
Ich hatte ein Leben in Teheran, ein schweres, entbehrungsreiches, aber ich hatte meine Familie, die mir Halt gab. Doch plötzlich zwang uns ein eher unglücklicher Zufall zurück nach Kerman. Flüchtlinge rückten verstärkt auf die Agenda der iranischen Politiker, es gab große Bestrebungen, dass man sich einen Überblick verschaffte, wie viele Menschen aus anderen Ländern tatsächlich im Iran lebten. Da wir uns in Teheran nicht registrieren durften, wiederum ohne eine Registrierung auch noch die letzten Rechte, die uns blieben, verwirkt hätten, kehrten wir zurück. In Kerman konnten wir uns schließlich registrieren, aber waren nach wie vor alles andere als willkommen. Zunächst lebten wir in einem vollkommen maroden Flüchtlingscamp, bevor man uns in ein Dorf außerhalb der Stadt umsiedelte.
Schnell wurde mein Vater als Mudschahed wieder zu einer geistlichen Führungspersönlichkeit der afghanischen Gemeinde in unserer Region. Und nach wie vor lehnte er jedes ihm zugetragene Angebot zur Kooperation seitens der Iraner ab. Er war fest davon überzeugt, dass es immer noch nur darum ging, ihm das Wort abzuschneiden. Er wusste, dass niemandem daran lag, die Situation der Flüchtlinge im Iran zu verbessern. Augenwischerei. Teilweise bat man ihn sogar ganz unverblümt, er möge doch offiziell verlautbaren, dass es uns, den geflohenen Afghanen, im Iran blendend ginge. Seine Sturheit, sein Rückgrat kostete uns alles, was wir zum Leben in Kerman brauchten. Wir durften nicht mehr offiziell arbeiten. Schule oder Studium: ausgeschlossen. Wir waren geduldet, mehr nicht. Mein Vater sprach nie über die Gründe, warum man gerade uns derart schikanierte, Erst viel später öffnete er sich und erzählte uns von alledem.
Mein Bruder und ich fingen an, auf Hochzeiten Musik zu machen. Mein Bruder sang, ich begleitete ihn mit Instrumenten, so verdienten wir ein bisschen Geld. Wir besaßen allerdings weder das nötige Equipment noch irgendwelche Instrumente, nicht einmal ein Auto. Also waren wir immer auf Iraner angewiesen, die uns alles liehen, was wir für unsere Auftritte brauchten – Instrumente, Verstärker, Mikrofone. Eine Hochzeit, auf der wir spielten, verließen wir mit dem Auto eines entfernten Bekannten. Auf dem Heimweg stoppte uns die Polizei. Sie fingen an, das Auto zu durchsuchen. Dass sie etwas gefunden hatten, wurde uns schnell klar, als die Handschellen klickten. Sie sprachen von Drogen und brachten uns auf ein Polizeirevier. Am folgenden Tag wurden wir vorerst wieder entlassen.
Einige Tage später bestellte man uns abermals aufs Revier. Wir beteuerten unsere Unschuld, sagten, dass wir uns das Auto geliehen hätten, nannten den Polizisten eine Reihe von Zeugen, die unseren Auftritt bei der Hochzeit gesehen hatten. Als die Polizei unsere Aussagen überprüft hatte, durften wir wieder gehen. Bei meinem Bruder löste dieses Erlebnis etwas aus, weil er überzeugt war, dass uns jemand die Drogen untergeschoben und die Polizei informiert hatte, um uns gezielt zu schaden. Er wollte nicht mehr im Iran leben und verließ das Land.
Auch ich machte mir ähnliche Gedanken, die Paranoia meines Bruders ergriff auch mich, schließlich waren seine Vermutungen nicht aus der Luft gegriffen. Aber ich war nicht so weit, das Land zu verlassen. Also versuchte ich mein Glück mit meiner Familie ein weiteres Mal in Teheran. Glück – drei Jahre Schwarzarbeit. Drei Jahre war ich zurück in meinem alten Teheraner Leben aus harter Arbeit und Existenzsorgen, als mein Bruder plötzlich wieder in Afghanistan war. Er kam aus Deutschland, dort hatte man ihn abgeschoben. Zurück in Afghanistan ging er sofort wieder nach Kerman. Meine Frau, meine Kinder und ich brachen ebenfalls die Zelte in Teheran ab. Ich hatte die Hoffnung, dass ich mit meinem Bruder wieder Musik machen könnte und dass sich die Situation in Kerman seit unserem Weggang entspannt haben könnte.
Wir organisierten uns ein bisschen Equipment und fingen in unserem Haus an, Popsongs zu komponieren und aufzunehmen. Wie jeder Musiker hatten wir den kühnen Traum, wir könnten vielleicht mal einen Hit landen. Aber Kunst, jede Form des künstlerischen Ausdrucks steht für Flüchtlinge im Iran definitiv nicht auf der To-do-Liste. Es muss jemand aus der Nachbarschaft gewesen sein, der uns an die Polizei oder andere Leute verraten hat. Eines Nachmittags, mein Bruder und ich waren gerade bei der Arbeit, brach jemand in unser Haus ein und schlug kurz und klein, was wir für unser kleines Tonstudio zusammengesammelt hatten. Alle Instrumente waren kaputt, die Aufnahmegeräte mit sämtlichen Aufnahmen ebenso.
Nun mischte sich auch unser Vater ein, dem nach wie vor die Behörden besonders heftig und regelmäßig auf die Füße traten, weil er ein einflussreiches Mitglied unserer Gemeinde war und die Zustände immer noch öffentlich thematisierte. Er riet uns, das Land zu verlassen. Für uns war aber vollkommen klar: Wenn einer geht, gehen wir alle.
Bald schon waren wir – die ganze Familie, meine Eltern, meine Geschwister mit ihren Familien, meine Frau, meine vier Töchter und ich – auf dem Weg in die Türkei. Alles, was wir außer Geld und Familienschmuck besaßen, blieb zurück in Kerman. Meine Frau und eine meiner Schwägerinnen waren bereits hochschwanger. Ein 26-stündiger Fußmarsch, auf dem man uns auch noch Geld und Schmuck raubte, brachte uns über die Grenze. Wir blieben einen Monat in der Türkei. Die meisten Afghanen, die wir trafen, waren auf dem Weg nach Deutschland. Mein Bruder, der schon einmal drei Jahre in Deutschland lebte, bestärkte uns darin, das gleiche Ziel anzusteuern. Wir waren einverstanden, nur einer meiner Brüder hatte sich fest in den Kopf gesetzt, dass er nach Österreich wollte. Wir vertagten diese Meinungsverschiedenheit, zunächst lagen ohnehin beide Ziele in gleicher Richtung.
Wir schliefen eine kalte Nacht am türkischen Mittelmeerstrand und stiegen morgens auf ein Boot, das uns nach Griechenland brachte. Auf einem größeren Schiff fuhren wir weiter nach Athen. Von Athen nach Österreich fuhren wir mit Zügen, Bussen und gingen weite Strecken auch zu Fuß.
In Österreich setzten bei meiner Schwägerin die Wehen ein. Sie kam ins Krankenhaus und ihr Kind zur Welt. Sie erholte sich zwei Tage von der Geburt, bevor wir beschlossen, nach Deutschland weiterzureisen. Einer meiner Brüder blieb, wie angekündigt, in Österreich. Hamburg wurde zu unserer ersten Station in Deutschland. Hamburg ist die Stadt, in der vor zwei Monaten meine fünfte Tochter das Licht einer hoffentlich besseren Welt erblickte. Vor einem Monat kamen wir schließlich nach Berlin.
Fragt man mich nach meiner Zukunft, kann ich nur betonen: Es geht mir nur in zweiter, dritter Linie um mich. Ich bin diesen Weg gegangen, weil es mir um das Leben meiner Töchter geht, um ihre Zukunft. Sie sollen an einem Ort leben, an dem ihnen alle Wege offen stehen. Ich durfte nicht lange zur Schule gehen. Mangelnde Schulbildung ist der Fluch, der auf meinem Leben liegt, ein Fluch, den ich nur mit viel Mühe und Glück werde durchbrechen können. Aber meine Töchter, die älteste ist acht Jahre alt und die jüngste jetzt zwei Monate, meine fünf Mädchen haben noch die Möglichkeit, von Anfang an etwas aus ihrem Leben zu machen. Wenn sie die Chance bekommen, für die wir den Weg hierher auf uns genommen haben. Erst wenn ich die beruhigende Gewissheit habe, dass meine Töchter einen besseren Start ins Leben haben dürfen, kann ich überhaupt über meine eigenen Wünsche für die Zukunft nachdenken. Ich weiß nur, dass Musik in meinen Träumen eine große Rolle spielt. Musik für Menschen.