AHMADJAVED

„Wir sind mit unseren Lebensentwürfen, mit unseren kleinsten Wünschen, immer wieder am Krieg gescheitert.“

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A. H.,
24 JAHRE ALT,
LEDIG, STUDENT DER INFORMATIK,
CUSTOMER RELATIONS MANAGER, TRANSPORTLOGISTIKER

Meine Eltern hatten große Angst um unsere Sicherheit, als wir uns auf den Weg nach Deutschland machten. In Istanbul erzählten uns andere Flüchtlinge von ihren gefährlichen Versuchen, mit dem Boot nach Griechenland zu gelangen. Meine Eltern beschlossen, mit meinen jüngeren Geschwistern und meiner älteren Schwester in der Türkei zu bleiben, ich hingegen machte mich auf den Weg über das Meer. Ich verabschiedete mich von meiner Familie und ahnte noch nicht, dass ich meine Mutter nicht wiedersehen würde.

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Als ich ein Kind war, verbrachte ich meine Tage – zumindest jene Tage, an denen die Gefahr eines Angriffs gering war – am liebsten draußen im Park. Mit Freunden spielte ich Fußball von früh bis spät, stundenlang übten wir uns in den Fußballtricks der älteren Jungs.

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An jenen Tagen, an denen wir besser im Haus blieben, klimperte ich gern auf dem Harmonium meiner Eltern. Ich beherrschte dieses Instrument nie richtig, aber seine Klänge machten mir Freude in einer Zeit, in der Angst ein häufiger Begleiter war. Die wenigen guten Tage fühlten sich an, wie sich eine glückliche Kindheit wohl anfühlt, die vielen schlechten wiederum verlebten wir in einer flirrenden Spannung, immer wartend auf den Knall. Ich bin 1991 in Kabul geboren, habe eine ältere Schwester und vier jüngere Geschwister – drei Mädchen im Teenageralter und meinen Bruder, er ist jetzt 22 Jahre alt. Meine Mutter arbeitete nicht, sie war immer bei uns, umsorgte uns und zog uns groß, während mein Vater den Lebensunterhalt für die Familie mit einem Bürojob in der iranischen Botschaft verdiente.

Nach Pakistan und wieder zurück.

Glücklicherweise konnte ich als Kind in Kabul noch zur Schule gehen. Wir lebten im 12. Bezirk – in einem „District“, der an der Straße nach Dschalalabad lag, die noch weiter nach Pakistan führte. Diese Tangente war eine strategisch wichtige Versorgungsroute der Taliban – sie lebten mitten unter uns. Genauer gesagt, lebten wir unter ihnen, sie waren in der Mehrheit. Der 12. Bezirk – mein Zuhause, eine Schaltzentrale der Taliban. Als ich 13 Jahre alt wurde, beschlossen die Taliban, dass wir nicht mehr zur Schule gehen durften. Überall ist Bildung der größte Feind der Extremisten. Meine Eltern verkauften unser Haus und wir zogen nach Pakistan. Von dem Geld, das unser Haus eingebracht hatte, lebten wir fünf Jahre in Peschawar. Als Flüchtlinge aus Afghanistan hatten wir es nicht leicht in Pakistan. Mein Vater fand keine Arbeit, wir Kinder keine Schule. Von unserem wenigen Geld finanzierten meine Eltern unseren Privatunterricht und verzichteten selbst dafür auf vieles. Wir führten ein entbehrungsreiches Leben in Pakistan, aber immerhin war diese flirrende Spannung weg, diese ständige Angst vor heimtückischen Angriffen.

Nach fünf Jahren, etwa 2009, machte es den Anschein, dass sich die Lage in unserer Heimat entspannt hatte. Aus der Ferne dachte man, es wäre Hamid Karzai und seiner Regierung tatsächlich gelungen, das Land zu stabilisieren. Also gingen wir zurück, merkten schnell, dass zwar vieles besser funktionierte als vor unserem Weggang. Die Taliban aber trieben noch immer ihr Unwesen, hatten an Macht und unterdrückerischem Potenzial nichts eingebüßt.

Nach der Schule – Arbeit und Studium.

Immerhin konnten wir wieder zur Schule gehen. Ich entdeckte meine Leidenschaft für alles, was mit Computern zu tun hat. Ich zocke sehr gerne, mein Lieblingsspiel ist „Project: I.G.I.“. Ein Freund von mir, der in einer anderen Unterkunft hier in Berlin lebt, hat gerade einen Computer bekommen. Hoffentlich haben wir bald alles zusammen, um wieder ein bisschen zocken zu können. Leider fehlt uns noch ein Betriebssystem.

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Erste Erpressungen.

Damals wollte ich aus meinem Hobby einen Beruf machen. Aber nachdem ich meine Schule in Kabul beendet hatte, wurde mir ziemlich schnell klar, dass meine Familie mich brauchte, dass auch ich arbeiten und Geld verdienen musste. Mein Vater fand nach unserer Rückkehr keinen Job mehr. Meine ältere Schwester war bereits Lehrerin und nun musste auch ich Verantwortung übernehmen. Ich fing an, als Customer Relations Manager in der BRAC Bank of Afghanistan zu arbeiten, und schrieb mich dennoch an der Universität von Kabul im Fach Informatik ein. Zur gleichen Zeit etwa fingen die Taliban an, mich wegen meines Jobs zu erpressen. Sie erpressten mich aus verschiedenen Gründen. Weil ich als Afghane für Ausländer arbeitete – die BRAC Bank of Afghanistan war im Besitz von Leuten aus Bangladesch. Und weil sie, die Taliban, das gesamte Banken- und Zinssystem für „haram“ erklärt hatten, es war Frevel. Eine Weile lang ignorierte ich diese Drohungen. Als die Taliban jedoch anfingen, Anschläge auf Banken in Kabul zu verüben und auch die BRAC Bank of Afghanistan zu einem potenziellen Ziel wurde, informierte ich meinen Vorgesetzten über die Erpressungsversuche. Ich hatte Angst, dass sie ihre Drohungen wahr machten und in der Minute, in der ich meinem Chef davon erzählte, keinen Job mehr.

Andere Arbeit, gleiches Spiel.

Doch wir brauchten das Geld dringend, das ich verdiente. An Studieren war ohnehin nicht mehr zu denken, nach zwei Semestern war ich der Doppelbelastung aus Arbeit und Universität nicht mehr gewachsen. Also fing ich einen Vollzeitjob bei einem Partnerunternehmen der ISAF an. Wir waren für die Transporte und die Speditionslogistik der Truppen zuständig. Ich war Disponent und organisierte die Beladung der Container, die nach Bagram zur Militärbasis der USA verfrachtet wurden. Nun arbeitete ich in den Augen der Taliban also direkt, Hand in Hand, mit dem Feind und es dauerte nicht lange, bis ich sie wieder am Hals hatte. Wieder erpressten sie mich, drohten mir und meiner Familie. Auch mein jüngerer Bruder hatte bei diesem Unternehmen kurzzeitig eine Arbeit gefunden, sie aber nach den ersten Drohungen der Taliban schnell wieder aufgegeben. Ich wollte mich diesen Erpressungsversuchen nicht beugen, aber auch mir blieb schon bald keine andere Wahl. Die Taliban drohten mir und meiner Familie mit dem Tod, wenn ich nicht dafür sorgte, dass ihre Sprengsätze in die Container gelangten, die nach Bagram gingen. Natürlich verweigerte ich. Ich hatte meine Chefs von Anfang an darüber informiert. Für sie war es kein neues Phänomen und sie ließen mich zunächst weiter meinen Job machen, weil sie mir vertrauten. Die Taliban gaben aber nicht klein bei, das Vertrauen, das meine Chefs in mich setzten, bekam angesichts der Hartnäckigkeit der Erpresser zunehmend Risse. Ich nahm ihnen die Entscheidung ab, kündigte meinen Job und musste nun mit der Gewissheit und dem damit verbundenen Risiko leben, mich den Erpressungen der Taliban widersetzt zu haben. Das bedeutete nicht nur Lebensgefahr für mich, sondern für meine gesamte Familie.

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Die Entscheidung, das Land zu verlassen.

Eine Weile ertrugen wir diese ständige Angst, trafen dann aber die Entscheidung, das Land zu verlassen. Über Iran gelangten wir in die Türkei. Wir verbrachten 15 Tage in Istanbul. Viele andere Flüchtlinge erzählten dort von ihren Erlebnissen, von ihren gescheiterten Versuchen, das Meer zu überqueren. Es schien, als wäre jeder Zweite bereits auf einem Schiff gewesen, das die Passage nicht geschafft hatte. Sinkende Boote, sterbende Menschen, verlorene Familienmitglieder, überall diese Geschichten. Meine Eltern sorgten sich sehr, vor allem um meine jüngeren Schwestern. Sie befürchteten, dass so junge Mädchen diesen Strapazen nicht gewachsen wären. Zu groß war die Angst, dass wir es nicht schaffen und so entschieden wir gemeinsam, dass ich mich zunächst allein auf die Reise machte, während meine Familie noch in der Türkei blieb.

Ich fuhr ans Meer und ging mit 20 Personen auf ein marodes Boot, das kurz vor der griechischen Küste am Seegang zerschellte. Wir hatten Glück, die griechische Küstenwache fischte uns aus dem Wasser und brachte uns an Land. Ich hatte es also geschafft und setze meine Odyssee über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich fort, bis ich endlich Passau erreichte. Von Passau brachte man mich nach Berlin. Hier angekommen, wollte ich meine Familie informieren, dass es mir gut ging, dass ich es geschafft hatte.

In einem Telefonat kurz nach meiner Ankunft erfuhr ich, dass meine Mutter in der Türkei sehr krank wurde. So krank, dass sich meine Familie entschied, umzukehren und zurück nach Afghanistan zu gehen. Ich war erschrocken, sie hatten es doch schon in die Türkei geschafft. Warum begaben sie sich zurück in die Gefahr, vor der wir geflohen waren? Allerdings ahnte ich auch nicht, wie schlecht es um meine Mutter stand. Später wusste ich, warum sie nach Hause wollte. Sie starb nach wenigen Tagen zurück in der Heimat, in Kabul. Ich saß hier, allein in Deutschland, auf meinem Klappbett in einer Turnhalle, als ich vom Tode meiner Mutter erfuhr und hatte keine Gelegenheit mehr, mich von ihr zu verabschieden. Ich hatte ihr in Istanbul noch „Auf Wiedersehen“ gesagt und es ging ihr gut. Mir war klar, dass ein Wiedersehen eine Weile dauern könnte, aber nichts deutete daraufhin, dass es kein Wiedersehen mehr geben wird.

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Gefühle nach der Ankunft.

Ich fühle mich hilflos. Hilflos gegenüber dem Tod meiner Mutter, der für mich noch sehr unwirklich ist. Hilflos aber auch gegenüber meiner Familie, die sich nun wieder in der Gefahr befindet, die nun wieder von den Taliban bedroht wird. Ich wünsche mir, dass meine Familie wenigstens wieder nach Pakistan geht, weg aus Kabul. Meine Geschwister erkennen den Ernst der Lage, aber mein Vater tut sich sehr schwer damit, das frische Grab meiner Mutter allein in Kabul zurückzulassen. Ich hoffe, dass meine Geschwister ihn überzeugen können und sie in den nächsten Tagen aufbrechen.

Ich habe mein Leben vorerst retten können. Deswegen bin ich hier. Gerne möchte ich wieder studieren. Ich möchte meiner Familie eine Stütze sein, wenn auch aus der Ferne. Wäre es absehbar, dass sich die Lage in meinem Heimatland besserte, dass ich dort nicht ständig in Gefahr wäre, überlegte ich nicht lange. Ich ginge sofort zurück. Es ist meine Heimat. Ich habe diese Hoffnung, aber ich glaube nicht daran. Meine Heimat befindet sich seit 40 Jahren im Krieg. Wir sind im Krieg aufgewachsen. Wir sind mit unseren Lebensentwürfen, mit unseren kleinsten Wünschen, immer wieder am Krieg gescheitert. Ich habe keine großen Ansprüche. Ich wünsche mir nur eine Zeit in Frieden und Ruhe, eine Zeit, die man zu Recht als eine Zukunft bezeichnen könnte.

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Ahmadjaved Hamdard ist 1991 in Kabul geboren. Schon als Teenager verbrachte er fünf Jahre als Flüchtling mit seiner Familie in Pakistan. Zurück in Afghanistan beendete er seine Schule, arbeitete in einer Bank und im Transportwesen, musste seine Jobs aber immer wieder aufgeben, weil ihn die Taliban erpressten. Schließlich flüchtete er mit seiner Familie aus Afghanistan. In Istanbul trennten sich die Wege. Ahmadjaved ist allein nach Deutschland gekommen, während seine Familie in der Türkei blieb und wenig später ohne sein Wissen zurück nach Afghanistan ging. Kurz nach seiner Ankunft in Berlin erfuhr Ahmadjaved, dass seine Mutter in Kabul verstorben war. Ahmadjaved versucht alles, um seinen Vater und seine Geschwister davon zu überzeugen, das Land wieder zu verlassen.

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